Migrationsgeschichte ist ein wichtiges Thema – nicht nur für die "Stadtrandgeschichten". Auf der anderen Seite der hamburgisch-niedersächsischen Grenze liegt die Gemeinde Neu Wulmstorf. Mit den sogenannten Heimatvertriebenen seit 1945 wurde Migration für die Gemeinde zu einem zentralen Thema: Die Einwohner vervielfachten sich innerhalb kürzester Zeit. Es lebten seit Ende der 1940er Jahre mehr "Fremde" als "Einheimische" in der Stadt. Im Laufe der Jahrzehnte kamen immer wieder Menschen hinzu – insbesondere seit 2015.

Der Verein Heidesiedlung e.V., das Netzwerk „Willkommen in Neu Wulmstorf“, das Gemeindearchiv und die Bücherei Neu Wulmstorf haben diese besondere Geschichte zum Anlass genommen und am 5. Mai 2023 zu einem Gesprächsabend eingeladen: "Flucht damals und heute – Ankommen in Neu Wulmstorf". Die Ankündigung fiel knapp und präzise aus: "Wir sprechen mit Geflüchteten, unabhängig davon, woher und wann sie geflüchtet sind, über ihr Ankommen in Neu Wulmstorf."

Die Teilnehmenden der Geschichtswerkstatt im Projekt Stadtrandgeschichten wollten sich diese spannende Einladung nicht entgehen lassen und fuhren die wenigen Kilometer in die Nachbargemeinde.

In der gut gefüllten Schulaula berichteten Geflüchtete aus dem früheren Bessarabien, aus Syrien und der Ukraine über ihre Erfahrungen in Neu Wulmstorf. Im Hintergrund: Moderator Ludger Menke, Leiter der Gemeindebücherei.

Im Mittelpunkt des Abends standen die Stimmen der Menschen mit Migrationsgeschichte. Moderator Ludger Menke reichte einfühlsam und bedächtig das Mikrofon von Hand zu Hand, hörte zu, stellte Fragen und ließ Raum für Antworten. So kamen sogenannte Heimatvertriebene ebenso zu Wort wie Geflüchtete aus Syrien oder der Ukraine. Schnell wurde klar: Auch wenn jede Geflüchtetengemeinschaft in der jeweiligen Zeit eigene Erfahrungen gesammelt hat, haben Fluchterfahrungen auch Gemeinsames, zum Beispiel der unsichere Blick in die Zukunft, die Herausforderung bei der ersten Orientierung nach Ankunft oder der Umgang mit Unterstützung und Ablehnung.

Die Teilnehmenden der Geschichtswerkstatt haben historisch spannende Perspektiven kennengelernt, neue Kontakte geknüpft und nicht zuletzt gesehen, wie wichtig es nicht nur für Betroffene ist, über Migrationserfahrungen zu sprechen.

Nils Steffen

Die Teilnehmenden der Forschungstheatergruppe probieren sich spielerisch mit Texten aus dem ersten Interview mit einem nach Süderelbe geflüchteten Familienvater aus. Theaterarbeit ist aber viel mehr als nur Textarbeit: Wie können wir den Worten Leben einhauchen, der Geschichte eine Bühne bieten? Welchen Momenten sollte mehr Raum gegeben werden? Wie können wir als Menschen ohne Fluchterfahrung eine solche Geschichte angemessen erzählen? – Diese Fragen beschäftigen uns auch in den kommenden Wochen und Monaten.

Janina Blohm-Sievers

Am 26. April 2023 feierte das Projekt „Stadtrandgeschichten“ des Kulturhauses Süderelbe, der Universität Hamburg und der Geschichtswerkstatt Süderelbe e. V. Halbzeit. Zu diesem Anlass zeigte das Projektteam rund um Kulturhaus-Mitarbeiter Stephan Kaiser den Film „Mein Vater der Gastarbeiter“, in dem Yüksel Yavuz die Geschichte seines Vaters dokumentiert und erzählt, der in den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ nach Neuenfelde kam, auf der Sietas-Werft arbeitete und in „Klein-Istanbul“ lebte. Das Besondere des Abends: Filmemacher und Regisseur Yüksel Yavuz war gemeinsam mit seinen Eltern im Jola und konnte nach dem Film die Fragen der rund 80 Gäste beantworten. 

Film und Diskussion zeigten einmal mehr, welche Bedeutung Migrationsgeschichten für unser heutiges Zusammenleben in Süderelbe haben: Die Geschichten vom Weggehen und Ankommen, vom Sehen und Gesehenwerden und vom Miteinander in einer pluralen Gesellschaft sind Teil unseres Alltags. „Es ist großartig, dass das Interesse der Menschen daran steigt – und zwar unabhängig von ihrer Herkunft. Wir freuen uns, dass wir so ein buntes Publikum im Jola begrüßen durften“, resümiert Stephan Kaiser.

Für das Projekt Stadtrandgeschichten ist dieser Abend Motivation für die kommenden Monate. Zahlreiche Menschen haben ihre Migrationsgeschichte bereits dem Projektteam anvertraut. Diese werden aktuell von der projekteigenen Geschichtswerkstatt um Historiker Nils Steffen erforscht und von der Forschungstheatergruppe um Theaterpädagogin Janina Blohm-Sievers für die Bühne inszeniert. „Wir arbeiten zurzeit intensiv mit den sehr persönlichen Geschichten, die uns anvertraut wurden“, sagt Janina Blohm-Sievers. „Es ist eine Herausforderung auf die Bühne zu bringen, was die Interviewten erlebt und empfunden haben. Erinnerungen, Emotionen und zum Teil Traumata kommen da zusammen. Mit der Inszenierung möchten wir die Perspektiven der Migrierten sichtbar machen.“ Sichtbar werden die Geschichten erstmals im September: Bei „Neugraben erleben“ präsentiert das Projektteam die Ergebnisse des Citizen-Science-Projekts. Eine weitere Aufführung wird im November folgen.

Der Ideensprint für das Projekt Stadtrandgeschichten war ein voller Erfolg! Im August und September 2022 haben wir zwei spannende Workshops im Kulturhaus Süderelbe veranstaltet, bei denen wir uns der Vielfalt der Biografien in der Region und der Projektkonzeption gewidmet haben. Unser Motto lautete "Your history is our history!", denn wir wollten allen Beteiligten zeigen, wie wichtig die eigene Geschichte für die historische Forschung und das gesellschaftliche Miteinander ist.

Wir hatten das Glück, dass interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie viele wichtige Multiplikator*innen aus der Region an den Workshops teilnahmen. Dazu zählten beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter vom DRK Hamburg-Harburg, den Lokalen Partnerschaften für Demokratie, dem Bezirksamt Harburg, der Steg Hamburg, dem Café Welcome, dem Integrationsrat Harburg und der Islamischen Gemeinde Neugraben. Diese Netzwerke sind für uns wichtig, um die Türen zu öffnen und das Projekt in der Region bekannt zu machen, um die Beteiligung von möglichst vielen Menschen zu fördern.

Multiplikator*innen sammeln Ideen beim Workshop im Jola. (Foto: N. Steffen)

Neben der Sensibilisierung für die Vielfalt der Biografien in der Region hatten wir auch das Ziel, Interessen und Bedarfe für die historische und ästhetische Forschung zu ermitteln und gemeinsam Ideen für die Umsetzung des Projekts zu entwickeln. Dabei gab es viele spannende Diskussionen und wertvolle Anregungen. So wurde beispielsweise die Einbeziehung von Schulen und die enge Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen vorgeschlagen. Auch die Frage, ob die Geschichtswerkstatt und das Forschungstheater getrennt oder eng verzahnt arbeiten sollten, wurde diskutiert.

Natürlich gab es auch einige Herausforderungen, die wir bewältigen mussten. So war es etwa schwierig, Menschen mit Migrationsgeschichte für die Workshops zu gewinnen. Während des Stadtteilfests "Neugraben erleben" hatten wir aber die Gelegenheit, uns und unser Projekt "Stadtrandgeschichten" der Öffentlichkeit vorzustellen und mit Menschen in Kontakt zu kommen. Insbesondere die Ansprache von Menschen mit eigener und familiärer Migrationsgeschichte war für uns von großer Bedeutung, da wir die Migrationsgeschichte der Region in den Fokus rücken möchten. Vor Ort hatten wir die Chance, auf die Bedarfe und Perspektiven dieser Gruppen einzugehen und sie in unsere Arbeit einzubeziehen. Wir hoffen, dass wir auch in Zukunft die Möglichkeit haben, uns bei solchen Gelegenheiten zu präsentieren und mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen.

Nils Steffen und Stephan Kaiser präsentieren das Projekt bei "Neugraben erleben" (Foto: S. Steffen)

Insgesamt können wir sagen, dass der Ideensprint ein voller Erfolg war und wir viele wertvolle Erkenntnisse und Ideen für die weitere Umsetzung des Projekts gewonnen haben. Wir bedanken uns bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und freuen uns jetzt auf die nächsten Schritte des Projekts. Wir sind überzeugt, dass die Vielfalt der Biografien in der Region Süderelbe einen wichtigen Beitrag zu einem lebendigen und inklusiveren Miteinander leisten kann. Deshalb möchten wir auch weiterhin alle Interessierten einladen, sich an dem Projekt zu beteiligen und ihre eigene Geschichte und die ihrer Familie oder ihres Stadtteils einzubringen. "Your history is our history!" und gemeinsam können wir die Stadtrandgeschichten zum Leben erwecken.

Teilnehmende in Aktion. Beim "Dinner der Vielfalt" probierten sich die Gäste auch auf der Theaterbühne aus

Das Projekt „Stadtrandgeschichten“ möchte auf Grundlage von Zeitzeug*inneninterviews Migrationsgeschichte in Süderelbe erforschen. Doch wer soll interviewt werden? Wer führt die Interviews? Und was passiert dann mit den gesammelten Geschichten? Diesen Fragen widmete sich die erste Aktion des Projektes an einem vorweihnachtlichen Abend im Kulturhaus Süderelbe.

Dinner der Vielfalt – unter diesem Motto stand die Veranstaltung am 15. Dezember 2022, die nicht nur das Projekt und die Mitmach-Möglichkeiten vorstellen sollte, sondern auch Menschen zusammenbringen wollte, die sich sonst nicht getroffen hätten. Das Projektteam um Stephan Kaiser hatte sich überlegt, einen Anlass zu schaffen, der für Menschen aus allen Kulturen attraktiv sein kann: Essen. Denn Essen ist Heimat. Und gemeinsam essen verbindet.

„Du bringst etwas für das Buffet mit, das du mit deiner Herkunft, Identität oder eigenen Geschichte verbindest. Zum Beispiel deinen Lieblingssnack oder ein Gericht, das dich an deine Heimat erinnert. Und wir stellen Dir die ‚Stadtrandgeschichten‘ vor, was wir vorhaben und wie du mitmachen kannst.“ Die Gäste brachten allerlei Leckereien mit nach Neugraben: libanesische Halawet el Jibn, schwäbischen Kartoffelsalat, französische Fritons de Canard, iranisches Lavashak aus Maulbeeren, norddeutschen Zuckerkuchen und anderes mehr. Die Teller und Schälchen auf den Tischen wurden zu Brücken: Sie boten Gesprächsanlässe, riefen Nachfragen hervor, förderten offene Gespräche. So plauderten die Teilnehmer*innen über die eigene Herkunft und die Wahrnehmung von Migration in der Region. Kulinarische Tipps und Vorlieben waren natürlich auch Teil der Unterhaltungen.

Teller und Schälchen wurden zu Brücken. Teilnehmende unterhalten sich über Essen, Herkunft und Identität

Fadi Doudar, interkultureller Trainer, und Janina Blohm-Sievers, freie Theaterpädagogin und Leiterin des Forschungstheaters der „Stadtrandgeschichten“, wollten es aber nicht bei Gesprächen belassen und luden die Teilnehmenden ein, über den Tellerrand zu schauen. 

Zunächst ging es mit den beiden gedanklich zu einer Übung auf die Insel Albatros: Die Teilnehmenden beobachten das Verhalten eines Mannes und einer Frau aus der fiktiven, fremd wirkenden Albatros-Kultur. Sie teilten ihre Beobachtungen mit und interpretierten das Gesehene. Die Teilnehmenden haben dabei an sich selbst erfahren, wie schwierig es ist, in Beschreibungen keine Interpretationen einfließen zu lassen. Sie lernten, dass Handlungen immer vor dem Hintergrund der eigenen kulturellen Sozialisation interpretiert werden, es aber auch andere Möglichkeiten der Interpretation gibt. Die Runde reflektierte zusammen, welche Aspekte ihre eigene Wahrnehmung beeinflusst haben und erweiterte so ihre Fähigkeit, kulturelle Überschneidungen und Differenzen wahrzunehmen und auszuwerten. Die Übung half dabei zu verdeutlichen, dass den Menschen und gesammelten Geschichten im Projekt mit Offenheit und Wertschätzung zu begegnen ist.

Um Wertschätzung ging es auch in dem anschließenden Erstkontakt mit der Theaterbühne. Janina Blohm-Sievers lud die Gäste zu einer Reihe kleinerer Übungen ein, die die Hemmschwelle zur Bühne abbauen und die Lust an Kreativität fördern sollten. So wurde ein Stuhl pantomimisch in dutzende andere Objekte verwandelt. Und eine kurze Passage aus einem Interview mit einer Zeitzeugin wurde kurzerhand in Szene gesetzt, indem die Teilnehmenden die zentrale Aussage mit einer Emotion verbanden und diese auf der Bühne gemeinschaftlich in Handlung übersetzten.

Fadi Doudar, Stephan Kaiser und Janina Blohm-Sievers (v.l.n.r.) stellen den Teilnehmenden das Projekt und die Mitwirkungsmöglichkeiten vor

So viel Aktivität und Interesse der Gäste machten das Dinner der Vielfalt zu einem großen Erfolg. Das Projektteam hofft darauf, dass viele der Teilnehmenden sich nun aktiv im Projekt einbringen werden. Weitere Aktionen wie ein Besuch im „Café Welcome“ und ein Get Together auf dem örtlichen Wochenmarkt sind für den Januar geplant. Die Arbeitsgruppen nehmen Anfang Februar ihre Forschungsarbeit auf.

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